Vor- und Nachteile von Wildfängen und Nachzuchten

Vor- und Nachteile von Wildfängen und Nachzuchten

30 Jahre Aquaristik aus der Sicht eines Zierfisch-Großhändlers

Text & Fotos: INGO SEIDEL


Als Aquarianer verfolge ich dank meines fortgeschrittenen Alters die aquaristik seit der ersten Ausgabe. Ebenso wie die Zeitschrift selber hat sich auch unser Hobby in dieser Zeit unglaublich stark verändert. Vor mehr als 20 Jahren machte ich mein Hobby zum Beruf und wechselte zum Zierfischgroßhandel aqua-global nach Werneuchen bei Berlin. Mittlerweile bin ich dort selber Geschäftsführer und habe diesen Wandel dadurch vielleicht noch intensiver miterlebt als so manch anderer Aquarianer. Insbesondere im Zierfischhandel gab es seitdem einige Veränderungen, worüber ich hier berichten möchte.
Als ich 2001 für meinen Job nach Brandenburg umzog, waren viele Zierfische in unseren Aquarien noch Wildfänge. Artenreiche Importe von Wildfängen aus Südamerika, Afrika und Südostasien gelangten zu uns. Ich weiß, dass die Entnahme von Zierfischen aus der Natur von vielen Leuten kritisch gesehen wird. Jedoch konnte ich mich bei diversen Reisen in die Herkunftsländer meiner Pfleglinge selbst davon überzeugen, dass der Ruf von Wildfängen zu Unrecht so schlecht ist.
Die meisten Arten können ohnehin nur saisonal gefangen werden, da der Wandel zwischen Regen- und Trockenzeit das Fangen nur zu bestimmten Zeit erlaubt. Die Fänger gehen fast immer sehr sorgsam und professionell mit ihren gefangenen Fischen um, die ja ihren Lebensunterhalt sichern. In Brasilien macht der Zierfischfang in den Hauptfanggebieten Barcelos und Santa Isabella immerhin etwa 80 Prozent der lokalen Ökonomie aus mit etwa 10.000 Arbeitnehmern.
Und die Fische sind als nachwachsende Ressource in jedem Jahr wieder in gleicher Anzahl vorhanden, ohne dass der Fang auch nur den kleinsten Einfluss darauf haben könnte. Eine Gefahr für unsere Zierfische stellen vielmehr überall auf der Welt die zunehmende Rodung von Waldflächen dar, um dort Ölpalmen, Baumwolle oder Soja anzubauen, Staudammprojekte, die den Verlauf der Flüsse ändern, sowie eine Vergiftung der Gewässer etwa durch die Industrie.
Heute werden 80 bis 90 Prozent der im Handel erhältlichen Fische nachgezüchtet. Selbst der immer unter den Top Ten der beliebtesten Zierfische vertretene Rote Neon stammt heute zumeist aus der Nachzucht. Als ich im Zierfischgroßhandel begann, wurden die meisten Paracheirodon axelrodi noch aus Brasilien und Kolumbien importiert. Später importierten wir für lange Zeit vor allem Nachzuchten aus Vietnam.

Der Rote Neon ist immer noch der beliebteste Zierfisch bei den Aquarianern.

Bei den Neonsalmlern (Paracheirodon innesi) handelt es sich ausschließlich um Nachzuchten.

Nicht nur seit dem Beginn des Klimawandels, sondern auch als Tierliebhaber sollte der verantwortungsbewusste Zierfischimporteur versuchen, die Transportwege für die angebotenen Tiere so kurz wie möglich zu halten. Und so stammen heute bei unserem Zierfischgroßhandel die allermeisten Roten Neons wie auch Neonsalmler aus deutscher Nachzucht von einer renommierten sächsischen Züchterei.


Zierfischzüchter können Bedarf nicht decken

Jedoch können die Zierfischzüchter in Deutschland und Europa insgesamt den Bedarf der Aquarianer nicht annähernd decken. Die allermeisten nachgezüchteten Tiere gelangen deshalb aus Südostasien (Singapur, Thailand, Malaysia, Indonesien und Sri Lanka) zu uns, aber auch Israel und Osteuropa (Tschechien und Polen) tragen einen nicht unerheblichen Teil dazu bei.
Einige Zierfische werden heutzutage immer noch saisonal als Wildfang importiert. Obwohl die Nachzuchten mittlerweile deutlich die Überhand gewinnen, führt der Rote Neon immer noch die Top Ten der Wildfänge im Zierfischhandel an. Gefolgt wird er vom Blauen Neon (Paracheirodon simulans), der bislang noch kaum vermehrt wird.
Bei den sehr beliebten Ohrgittersaugwelsen der Gattung Otocinclus handelt es sich über das Jahr hinweg um verschiedene ähnliche Arten (Otocinclus vestitusO. huaorani usw.), die vom Zierfischhandel nicht unterschieden werden. Diese werden wegen der begrenzten Fangzeiten wechselweise aus Brasilien, Kolumbien, Peru oder auch Paraguay importiert.

Einer der am häufigsten importierten Ohrgittersaugwelse ist Otocinclus huaorani.

Eine der am häufigsten gehandelten Wildfänge ist nach wie vor die Prachtschmerle, die trotz ihrer Größe im Hobby immer noch sehr beliebt ist. Jedoch stellt ihr Fang eine absolute Besonderheit dar: Während früher die Schmerlen in Bambusröhren gefangen wurden, macht man sich heutzutage zunutze, dass die Alttiere in Indonesien einmal im Jahr zur Laichzeit die Flüsse hochwandern und kurze Zeit später wahre Massen von winzigen Larven die Flüsse heruntertreiben. Ein winziger Teil dieser ohnehin meist als Futter für andere Fische dienenden Jungtiere reicht aus, um den Bedarf bei den Aquarianern in aller Welt zu decken.

Prachtschmerlen werden heute als Larven gefangen und in Farmen aufgezogen.

In Aufzuchtfarmen werden die Larven zu verkaufsfähigen Prachtschmerlen aufgezogen. Auch dies ist ein Fall von nachhaltiger Nutzung. Zu den weiteren zahlenmäßig am häufigsten importierten Wildfängen zählen das Gebänderte Dornauge, der Indische Zwergsüßwasserkugelfisch, die Zwergpanzerwelse sowie einige Zwergbärblinge der Gattung Boraras.

Das Gebänderte Dornauge (Pangio semicincta) ist ein beliebter Wildfangfisch.

Auch Mosquito-Zwergbärblinge (Boraras brigittae) werden noch ausschließlich wild gefangen.


Fast eingestellt

Die Importe von wildgefangenen Zierfischen aus Afrika wurden mittlerweile fast gänzlich eingestellt und nur noch wenige Importeure können und wollen sich dies noch erlauben. Die Nachfrage nach afrikanischen Zierfischen ist im Laufe der Jahre gesunken und die kommerziell wichtigsten Arten waren meist Buntbarsche, die mittlerweile fast alle hier oder auch schon in Südostasien vermehrt werden. Die aktuell aus meiner Sicht noch wichtigsten regelmäßig importierten Wildfische aus Westafrika sind Rückenschwimmende Kongowelse, Schmetterlingsfische und Elefanten-Rüsselfische.

Zu den wenigen noch regelmäßig importierten Wildfischen aus Afrika zählt Synodontis nigriventris.

Afrikanische Buntbarsche wie Julidochromis ornatus werden hingegen fast ausschließlich nachgezüchtet.

Aus Sicht eines Zierfischimporteurs haben sowohl Wildfänge als auch Nachzuchten ihre Vor- und Nachteile. Die Importverluste sind bei beiden Varianten aufgrund der sehr professionellen Arbeitsweise der Exporteure sehr gering. Nachzuchten sind ganzjährig verfügbar, haben meist eine einheitliche Größe, sind aber zur Hochsaison in der kälteren Jahreszeit nicht selten kleiner.
Wildfänge kommen nur zur Saison zu uns, sind manchmal recht variabel in der
Größe und bringen teils Krankheitserreger mit. Diese sind aber meist recht einfach zu behandeln. Die Quarantäne und Behandlung von nachgezüchteten Zierfischen ist da oft deutlich aufwendiger. Denn vielfach haben wir es bei den Nachzuchten auch mit Formen zu tun, die durch Überzüchtung etwas anfälliger sind.


Stark verändert

Auch der Zoofachhandel selber hat sich über die Jahre stark verändert: Während vor mehr als 20 Jahren noch sehr viele kleine Zoofachhändler existieren konnten, haben es diese mittlerweile so schwer, dass viele aufgeben mussten. Schuld daran ist auch unser aller Kaufverhalten. Fachliche Beratung ist heute nur oft noch wenig gefragt und aquaristisches Zubehör wird statt im Ladengeschäft sehr viel über den Versandhandel gekauft, wo es natürlich auch etwas preiswerter ist.
Vor allem von den Fischen können die kleinen Aquaristikhändler aber kaum noch leben. Mittlerweile dominieren die großen Zoofachhandelsketten den Markt sehr deutlich und natürlich setzen sich dabei auch sehr viel stärker marktwirtschaftliche Denkweisen durch. Wer will es manchen Anbietern verdenken, dass sie ihr Angebot auf die 200 bis 300 Zierfische beschränken, die sich nun einmal am besten verkaufen?
Daher dominieren die Topseller der verkauften Arten den globalen Markt sehr deutlich. Laut Evers, Pinnegar & Taylor (2019) machen alleine der Guppy (Poeciliareti culata) und der Neonsalmler (Paracheirodon innesi) schon etwa 25 Prozent der verkauften Zierfische aus, nach Umsatz etwa 14. Für kleinere Zoofachhändler ist eine solche Selbstbeschränkung von Teilen des Zoofachhandels aber auch eine Chance, durch ausgefallenere Arten Kunden zu gewinnen. Auch einige große Zoofachhandelsketten bieten aber mittlerweile wieder die eine oder andere Rarität an, die nicht jeder hat.
Besonders die letzten Jahre haben die Branche vor größere Herausforderungen gestellt. Die Covid-Pandemie hatte der Aquaristik erst sogar Auftrieb gegeben, denn die Mobilität der Menschen war länger eingeschränkt und sie hatten zwangsläufig mehr Zeit fürs Hobby. Jedoch war ein Problem, dass der Import von Zierfischen weitestgehend im Frachtraum von Passagierflugzeugen erfolgt – die starke Einschränkung des Luftverkehrs führte zu Frachtraumengpässen und einem enormen Anstieg der Preise für Luftfracht. Anfänglich mussten wir die Fische sogar an weiter entfernte Flughäfen liefern lassen, da keine geeigneten Flüge zu den gewohnten Flughäfen existierten.
Aus einigen Herkunftsländern waren für längere Zeit keine Fische zu bekommen. Die Frachtpreise aus den meisten Herkunftsgebieten stiegen auf mindestens das Doppelte. Gleichzeitig stieg auch noch der Dollarkurs, was die Erträge bei den meist in Dollar zu bezahlenden Importen für die Zierfischgroßhändler weiter schmälerte. Schließlich lassen sich Preise für Zierfische auch nicht immer weiter erhöhen.

Die starke Erhöhung der Frachtkosten hat besonders bei Arten mit geringer Packmenge zu Preiserhöhungen geführt, wie etwa bei Mosaikfadenfischen.


Krisen überstehen

Als im letzten Jahr zudem der Krieg in der Ukraine ausbrach, hatte dies auf die gesamte Branche einen sehr negativen Einfluss. Die starke Inflation und die galoppierenden Energiepreise hatten die Menschen so verunsichert und beängstigt, dass der aquaristische Zoofachhandel eine Krise durchlief. Insbesondere seltenere Zierfische waren im Sommer gar nicht mehr gefragt.
Erst als im Herbst die Menschen aufgrund des Energiepreisdeckels wieder etwas mehr Planungssicherheit und Erleichterung erhielten, stieg auch die Bereitschaft wieder, Aquarienfische zu erwerben. Da man ein Aquarium mittlerweile sehr energiesparend betreiben kann und so die monatlichen Kosten für einen Aquarianer überschaubar sind, wird unser Hobby auch solche Krisen sicherlich überstehen.
Glücklicherweise ist der Dollarkurs mittlerweile wieder gesunken und es gibt seit Anfang des Jahres auch eine leichte Entlastung bei den Frachtpreisen, sodass weitere Preiserhöhungen bei den Fischen vorerst nicht zu befürchten sind. Daher können wir vielleicht mit Zuversicht auf die nächsten 20 Jahre aquaristik sehen.